Prolog

Prolog

Margo

Sonntag

Etwas knallt ohrenbetäubend und ich schrecke aus dem Schlaf.
Mit rasendem Herzen drehe ich den Kopf und versuche, mich zu
orientieren.
Es war ein Traum. Nur ein Traum. Das hoffe ich zumindest. Ich
schlucke trocken.
Blinzelnd sehe ich zum Fenster. Wird es schon hell draußen?
Ich taste nach dem Handy unterm Kopfkissen und aktiviere das
Display. Es ist fast sechs Uhr früh. Sam hat sich immer noch nicht
gemeldet. Ich seufze. Dieser Kerl macht mich wahnsinnig. Es
kann nicht sein, dass ich schon Albträume habe, während er sich
vergnügt.
Herrgott, wenn es nur das wäre! Wüsste ich wenigstens, dass
er sich vergnügt. Wüsste ich wenigstens, dass derjenige, mit dem
er sich vergnügt, ein cooler Typ ist und Sam nicht, na ja, killen will.
Aber im Grunde weiß ich gar nichts und bin trotzdem seit Monaten
fast jeden Samstag Sams Alibi bei seinen Eltern.
Wieso mache ich da eigentlich mit? Keinen blassen Schimmer.
»Jetzt ist Schluss«, flüstere ich und öffne den Messenger.
›Kannst du mir mal verraten, wieso du dich nicht meldest?! Wo
bist du? Ist alles okay?‹
, spreche ich ihm eine Sprachnachricht.
Vom Fenster aus ertönt ein hohles Klopfen und ich zucke zusammen.
Was war das? Es klopft erneut, diesmal lauter, spitzer.
Ich glaube, da ist ein Stein gegen mein Fenster geflogen. Moment.
Das ist doch jetzt nicht …!
Ich schlage die Decke zurück und springe auf, bin mit zwei
großen Schritten an der Scheibe und schalte die Taschenlampe
meines Telefons an. Dann öffne ich das Fenster, ziehe es weit auf
und leuchte mit dem Handy nach unten.
»Margo«, zischt ein roter Lockenkopf vom Garten aus.
»Sam?!« Einen schrillen Ton kann ich nur mit Mühe unterdrücken,
denn es ist sein Ernst. Es ist wirklich sein Ernst, wie er da im
Gras kniet und irgendetwas … sucht? »Was um alles in der Welt
machst du hier?«
»Hey!«, ruft er und hält im nächsten Moment sein Telefon samt
eingeschalteter Taschenlampe hoch.
»Pscht!« Ich blinzle gegen das Licht.
Er gluckst und ich glaube, dass er sich die Ellenbogenbeuge vor
den Mund drückt und schwankt. Ist er etwa betrunken?
»Kann ich bei dir pennen?«
»Was? Ernsthaft?« Ich seufze genervt. »Herrgott, Sam!« Ohne
ein weiteres Wort schließe ich das Fenster. Was denkt der sich
eigentlich? Na ja, vermutlich gar nichts. Ich sollte ihn da draußen
krepieren lassen, aber ich kann nicht anders, schnappe mir meinen
fliederfarbenen Morgenmantel und schleiche in den Flur und
die Treppen hinunter. Im Haus ist es mucksmäuschenstill und ich
hoffe, dass das so bleibt.
So leise es geht, schließe ich die Haustür auf. Das Licht auf der
Veranda springt an und in diesem Moment kommt Sam von links
über den Weg zum Garten getorkelt.
Er ist nicht bloß besoffen, er ist sternhagelvoll!
Ich presse die Lippen zusammen und schlinge den Mantel enger
um mich. So habe ich ihn noch nie gesehen. Ja, er hat mir erzählt,
dass er ältere Typen datet, aber müssen die ihn gleich so
abfüllen? Meinem Bauchgefühl passt das ganz und gar nicht.
Etwas klirrt und ich erstarre. »Boah, Sam!«
Er hat den einen kleinen Gartenzwerg am Beet an der Treppe
umgerannt und zeigt ihm jetzt den Mittelfinger. »Kommt davon,
wenn du die nicht anmachst«, flüstert er und meint die Laterne,
die der Zwerg in Händen hält.
Ich verdrehe die Augen. Er hat den Verstand verloren.
Sam steigt wankend die Treppe hoch und bleibt vor mir stehen,
grinst ein schelmisches Grinsen und lehnt sich mit einem Arm an
den Türrahmen. Er hat glasige Augen und ein müder Ausdruck
liegt darin. Eine ordentliche Fahne schlägt mir entgegen und ich
weiß nicht, ob ich ihn damit aufziehen oder megasauer sein soll.
Erst jetzt fällt mir auf, dass er total anders aussieht als in der
Schule.
Er trägt ein lässiges, knallbuntes Hemd offen über einem weißen
Shirt. Leuchtend rote Vans und eine knallenge hellblaue Jeans
im Used-Look.
»Wie … siehst du denn aus?« Ich streiche mir die langen,
schwarzen Haare zurück und muss zugeben, dass ihm die Klamotten
stehen. Sie stehen ihm nicht nur, nein, sie lassen ihn sogar
ziemlich gut und nicht mehr wie den klassischen Außenseiter aussehen.
Innerlich tadle ich mich dafür, dass ich so denke.
»Können wir das drinnen klären? Ich muss echt pissen.«
Widerwillig trete ich einen Schritt zur Seite, spüre, wie mein
Mundwinkel zuckt.
»Danke«, flüstert er, streckt den Arm aus und wuschelt mir
durchs Haar. Dann geht er an mir vorbei, stützt sich an der Wand
ab und steuert die Treppe zum ersten Stock an.
Mit einem stummen Seufzen folge ich ihm. Ich will wütend auf
ihn sein. Megawütend, aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass
er sich gut fühlt. Dass er unbeschwert ist. Ausnahmsweise mal.
Sam tritt gegen eine Stufe, stolpert und ich bete zu Gott, dass
meine Familie den Schlaf von Toten hat.
»Sam!«, flüstere ich und boxe ihm gegen den Oberschenkel. Er
gluckst und ich kann gerade so verhindern, zu kichern, weiß gar
nicht, ob es zur Stressbewältigung oder doch aus Belustigung wäre.
Oben zielt er in seichten Schlangenlinien auf das Bad zu und
ich gehe kopfschüttelnd zurück in mein Zimmer, schalte das
Nachttischlämpchen ein und setze mich aufs Bett, um auf ihn
zu warten. Mit einem Knopfdruck schaue ich auf die Handyuhr.
Wie lange will er denn genau schlafen? Eine Stunde? Zwei? Ich
muss ihn auf jeden Fall vor dem Aufwachen meiner Eltern wieder
hinauskomplimentieren. Herrgott, am Ende kriegen wir beide den
Ärger unseres Lebens. Wobei, nein. Eigentlich nur ich, denn meine
Eltern lieben Sam über alles.
Ich höre die Klospülung rauschen und mein Herz setzt einen
Schlag aus. Bitte lass niemanden wach werden. Bitte. Ich halte den
Atem an, lausche, aber es bleibt still. Nur das Klicken der Badezimmertür
ertönt und einen Augenblick später kommt Sam ins
Zimmer.
Kommentarlos zieht er Hemd und Hose aus und schmeißt sich
in Shirt und Boxershorts auf mein Bett. Sein Gesicht versinkt in
den Kissen und ich glotze ihm auf den Hinterkopf.
»Nein, nicht schlafen«, wispere ich und pikse ihm grob in die
Seite.
Sam rührt sich nicht und in meiner Kehle staut sich etwas auf,
von dem ich nicht weiß, ob es ein Lachen oder ein Schreien ist.
»Du wolltest es mir erklären.«
»Hmm«, brummt es durch den Stoff.
Ich nehme ein Kissen und haue es ihm auf den Kopf. »Sam!«
»Hmm.«
»Sam Wilson, du bist echt ein Arsch!« Meine Stimme bebt und
ich weiß, dass er weiß, dass ich recht habe. Ohne ein weiteres
Wort rupfe ich die Decke unter seinem Körper weg – beinahe rollt
er von der Matratze, aber es ist mir egal –, mummle mich darin ein
und schalte das Licht aus. Laut seufzend schließe ich die Augen
und dann ist es ruhig.
Ruhig um mich herum, aber irre laut in meinem Kopf.
Wieso tut er das? Wieso bringt er mich in so eine Lage? Wieso
ist unsere Freundschaft im Moment so eine Achterbahnfahrt?
Weiß er denn nicht, dass ich mir Sorgen mache? Wieso erzählt
er mir seit drei, vier Monaten nicht mehr, was in seinem Leben
passiert? Schämt er sich etwa, weil er sich mit Jungs trifft? Und
wieso trinkt er so viel? Macht er das, um seinen Dates zu gefallen?
Oder will er selbst einfach nur den Kopf freikriegen? Warum?
Wegen morgen? Wegen der Schule? Wegen allem, was da abgeht?
Oder gibt es etwa noch etwas ganz anderes, von dem ich gar
nichts weiß?

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