Kapitel 1
Sam
Sonntag
Es ist still und ich atme angestrengt in den Stoff, rieche Margos Jasminduft in den Kissen und irgendwie hoffe ich, dass er mich beruhigt. Wenigstens ein bisschen, denn in meinem Hirn explodieren die Gedanken.
Sie drehen sich um Eric. Um die Juilliard. Um Mom. Musik. Phil.
Um morgen.
Altbekannte Panik lauert irgendwo unter dem Alkohol und ich schlucke gegen die Übelkeit an.
Wie viele Drinks hat Eric mir noch mal ausgegeben? Verdammt. Feiern kann der. Und tanzen. Und mich ins Bett kriegen. Ich denke an die Tattoos auf seinem definierten Körper. Wie kann man nur so übertrieben heiß sein? Ich beiße mir auf die Zunge. O Mann. Er wird nicht begeistert sein, wenn er merkt, dass ich weg bin. Mal wieder. Aber nach seiner Aktion vor ein paar Monaten kein Wunder. Und Mom und Dad werden ausrasten, weil mein Bett leer ist. Mal wieder.
Ich drehe mich auf den Rücken und lege einen Arm über meine Augen, damit die dunklen Schemen in Margos Zimmer nicht hin und her kippen. Zu ihr zu gehen, war die einzige Möglichkeit. So betrunken hätte ich niemals zu Hause aufschlagen dürfen. Verkorkste Scheiße. Ich reibe mir mit einer Hand über das Schlüsselbein. Das wird echt ein brillanter Start ins Abschlussjahr.
Verdammt, das Abschlussjahr.
Morgen.
Ab morgen werde ich Phil noch ein ganzes Schuljahr lang über den Weg laufen, die dummen Sprüche hören und mich fragen, was zum Teufel mit uns passiert ist. Und wahrscheinlich werde ich mich das nicht nur bis zum Ende der High School fragen, sondern bis ans Ende meines Lebens.
Hinter meinen Schläfen pocht ein dumpfer Schmerz und ich balle die Hände zu Fäusten. Die Erinnerung von mir und Phil ist in mein Hirn gebrannt, als wäre es gestern gewesen. Als wäre das alles nicht schon eine Ewigkeit her. Nein. Als wäre es gestern gewesen. Ich seufze.
Verdammt.
Morgen.
Montag
Ich starre aus dem Fenster. Die Anspannung in meiner Brust steigt, je näher wir der Schule kommen. Ich fühle mich wie auf dem Weg zu meiner Hinrichtung.
Dass Mom mit ihren Fingern nervös auf dem Lenkrad herumtrommelt, macht es nicht besser. Als meine kleine Schwester, Emily, eben noch mit im Auto saß, war sie entspannter. Aber jetzt, da wir Emily an der Middle School rausgelassen haben, arbeitet Moms Hirn lautstark.
Egal, was ihr auf der Zunge liegt, sie soll es einfach aussprechen.
Und nach zwei überquerten Kreuzungen tut sie es: „Hast du schon was für deine Komposition?“
Ich drehe ihr das Gesicht zu. Sie meint die Komposition, die ich für meine Bewerbungen für ein Stipendium an diversen Universitäten brauche. Energisch kaut sie auf ihrer Wange und ich wende mich ab, frage mich, wie es sein kann, dass dieses Thema mehr Emotionen in ihr auslöst als in mir.
Verdammt. Die Komposition. Die Juilliard.
Die gesamten Ferien bin ich ihr diesbezüglich ausgewichen, aber jetzt? Ich müsste schon aus dem fahrenden Auto springen, um ihr zu entkommen.
„Sam? Hast du?“
Ich atme tief ein und aus. Wieso fragt sie eigentlich? Sie weiß doch, dass ich schon eine ganze Zeit lang kaum Klavier spiele. In der Schule für die Theateraufführungen, ja. Aber ansonsten … Sie weiß, wie viel ich bisher komponiert habe. Nämlich gar nichts. Keinen einzigen Ton.
Wir halten an einer Ampel und ich spüre ihren Blick auf mir. „Meinst du nicht, du solltest dich langsam mal darum kümmern?“
Ich unterdrücke ein Schnauben. Als wäre das so einfach.
„Und was ist mit dem SAT?“
„Hmm.“ Ja, der blöde Studienbewerbertest wartet auch noch auf mich.
Sie seufzt, die Ampel springt auf Grün und sie fährt weiter.
Während sie gestern noch stinksauer war, weil ich nachts nicht nach Hause gekommen bin, wirkt es jetzt, als würde sie resignieren. Als wäre ich ein hoffnungsloser Fall.
„Schreibst du mir in den Pausen?“
Ich schließe die Augen. Ein hoffnungsloser Fall und ein Baby.
„Bitte, Sam.“ Jetzt bebt ihre Stimme. Sie macht sich Sorgen und weder das noch ihre Resignation kann ich gebrauchen.
„Okay“, sage ich trotzdem und zucke mit den Schultern.
Sie nimmt meine Hand, aber ich ziehe sie weg und lege sie auf meine Hosentasche. Mit dem Daumen fahre ich über das Smartphone darin. Ich will mich ablenken. Von ihr und davon, dass ich Phil gleich wiedersehe. Am liebsten würde ich einfach gar nicht mehr zur Schule gehen, aber ich brauche den Abschluss – einen ausgezeichneten –, um aus diesem Kaff rauszukommen.
Ich, der Jahrgangsbeste. Ich, der Außenseiter. Manchmal tut das alles so beschissen weh, dass ich nicht klar denken kann.
Mom biegt auf den Parkplatz an der Schule ab und mein Atem geht schneller. Sie dreht und hält mit Blickrichtung zum Schulgebäude. „Da wären wir.“
Bevor ich zu Stein erstarre, ziehe ich die Kapuze des grauen Hoodies über meine roten Locken, schnalle mich ab und schiebe die Beifahrertür auf. „Bis dann, Mom.“
Mit zitternden Knien klettere ich aus dem Wagen und schlage die Tür hinter mir zu.
Sofort bricht Stimmgewirr über mir herein. Die Schüler*innenscharen marschieren wie ein riesiger Fischschwarm zum Eingang. Autoabgase dringen in meine Nase. Meine Alarmglocken läuten schrill und ich versuche, meinen Atem zu kontrollieren. Ich stöpsele Kopfhörer in mein Handy, schalte Away von VIZE und ALOTT an und stecke mir die kleinen Lautsprecher in die Ohren.
Auf geht’s.
Mit gesenktem Kopf und den Fäusten in der Bauchtasche des Pullis gehe ich in einer Menschentraube auf das Gebäude zu. Meine Mitschüler*innen beachten mich nicht oder wollen mich nicht beachten – und das beruht auf Gegenseitigkeit.
Wie ich das alles hasse. Schwimmteam hier. Jubel und Gekreische dort. Phil, der König der Schule, Captain der Senior-Schwimmmannschaft. Yippie-Ya-Yeah. Ich will kotzen, weil jeder, der für Phil ist, automatisch gegen mich ist. Und das sind im Grunde alle.
Ich erreiche meinen Spind ohne Zwischenfälle, schnaufe durch und ignoriere mit zusammengepressten Lippen den hellgrauen Fleck an der Tür. Was durfte ich vor den Sommerferien abschrubben? Tunte? Oder Arschficker? Alles sehr originelle Beschimpfungen. Ich schnaube, stopfe die Sachen, die ich heute nicht brauche, ruppig in den Schrank und gehe weiter zu Mr Weights Klassenraum, in dem ich gleich Geschichte habe. Mit einer fahrigen Bewegung ziehe ich die Kapuze tiefer in mein Gesicht, öffne die Tür und linse ins Klassenzimmer.
Erleichterung überschwemmt mich und verwandelt sich dann in kaltes, brüchiges Eis. Denn unmittelbar schräg hinter Margo sitzt Sasha Andrews, bester Schwimmer der Schule und Teamkollege von Phil.
Ich reiße die Kopfhörer aus meinen Ohren. Was zum Teufel hat er in der zweiten Reihe verloren?! Die Evolutionsbremsen sitzen doch sonst immer ganz hinten.
Der Geruch nach Kreide und PVC-Boden schlägt mir entgegen und mir wird schlecht. Margo hebt den Kopf und winkt mir zu, aber ich stehe wie angewurzelt da. Panik fließt durch meine Adern. Ich kämpfe mit dem Drang, meine erste Stunde in diesem Schuljahr zu schwänzen, aber mein Verstand erinnert mich an die Juilliard, – gewinnt – und ich setze langsam einen Fuß vor den anderen. Lasse mich auf den Platz am Fenster direkt vor Sasha und neben Margo fallen. Sie sucht meinen Blick, aber ich fokussiere irritiert das Heft, über das der Schwimmchamp sich schreibend beugt.
So ein Möchtegern-Streber.
Verdammt. Sollte Phil jetzt auch Geschichte haben und sich zu ihm setzen … na dann, Prost Mahlzeit.
„Sam?“, fragt Margo, springt auf und schließt mich in die Arme.
Eine Ladung Haare fliegt mir ins Gesicht und ich puste sie weg, um nicht an ihnen zu ersticken. Der Duft nach Jasmin gemischt mit dem eines heißen Sommertages legt sich drückend über meine Sinne. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich. Sachte tätschele ich ihren Rücken.
Sie lässt mich los. „Alles klar?“ Ihre Zähne blitzen auf und sie schiebt das rosa Gestell ihrer Brille die Nase hinauf.
Ich runzle die Stirn. Die ist definitiv neu und kommt durch ihre dunkle Haut gut zur Geltung. Moment. Was hat sie noch mal gefragt?
Margo schürzt die Lippen, setzt sich und wendet sich dem Organizer auf ihrem Tisch zu.
Ist sie etwa wieder zickig, weil ich ihr auf jede Frage nicht sofort Rede und Antwort stehe? Scheiße, ich bin der Einzige, der gerade Grund hat, angepisst zu sein. Sie hat sich vor Sasha Andrews gesetzt. Alarmstufe Rot hoch eintausend! Ich atme schwer aus und ziehe mein Handy aus der Hosentasche.
„Ich habe gefragt, ob alles gut ist“, sagt Margo.
„Ja, alles bestens“, murmle ich und kippele auf dem Stuhl.
Mein Display zeigt mir acht neue Nachrichten auf *Date an. Ich lehne mich mit dem Rücken in Richtung Fenster, sodass möglichst niemand auf meinen Bildschirm gucken kann. Meine Gliedmaßen entspannen sich, ich schiebe die Kapuze vom Kopf und öffne die App.
Drei sind von Eric und fünf von Jungs, mit denen ich noch nie geschrieben habe. Ich kratze mich mit dem Daumen an der Schläfe. Manche Namen sind echt creepy. ToyBoy812. OneNightGentleman. Wie kommt man auf so was? Ich zucke mit den Schultern und schaue mir ein Profil nach dem anderen an. Leider ist ToyBoy812 genau mein Typ. Blond, blauäugig und sportlich. Ich scrolle durch seine unzähligen Oben-ohne-Bilder und schüttle grinsend den Kopf. Da hat aber jemand breite Schultern und muskulöse Arme. Mein Gesicht prickelt und ich schiele hoch.
Margo beobachtet mich mit hochgezogener Augenbraue. Obwohl ihr Blick ziemlich kritisch ist, vergeht mir mein Grinsen nicht. Im Gegenteil. Ich bin jedes Mal erstaunt. Niemand hat so schön geschwungene Augenbrauen wie sie.
Ich will fragen, wie es ihr geht, aber Cooper und Evan erscheinen im Türrahmen. Sofort stoppe ich das Kippeln, umklammere mein Telefon und mache mich auf die erste Attacke gefasst, aber zu meiner Überraschung werfen sie mir nur einen abschätzigen Blick zu und setzen sich in die hinterste Reihe. Glück gehabt.
Mein Handy vibriert und ich sehe aufs Display, reibe mit einer Hand über den schwarzen Stoff meiner Hose und versuche, zu vergessen, dass ich mich wie in einem Haifischbecken fühle.
Eric hat geschrieben. Zum vierten Mal seit gestern. Da bin ich wohl jemandem eine Erklärung schuldig.
Es vibriert noch einmal, aber diesmal ist es Mom. ‚Alles gut so weit, Sammy?‘
„Erde an Sam! Was ist denn so wichtig?“
Ich zucke zusammen.
Margo hat sich mir mit verschränkten Armen zugewandt und beugt sich jetzt vor.
Ich sperre das Smartphone und stecke es in die Bauchtasche.
„Ach, komm schon! Ist es wegen Samstag? Wenn ich schon dein Alibi war, dann rück raus mit der Sprache.“ Sie wird nicht lockerlassen. Nicht Margo.
„Es war zwar Sonntagmorgen, aber okay …“
Margo kickt mir mit einem Fuß verhältnismäßig sachte vors Schienbein.
Ich mache mir nicht die Mühe, so zu tun, als täte es weh, denn gleich wird es wirklich wehtun. Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wird sie mich umbringen, davon bin ich überzeugt. „Ich …“ Ein knapper Blick zu Sasha. Der schreibt immer noch irgendwas, aber ich senke trotzdem meine Stimme und kippele mit dem Stuhl in Margos Richtung. „Ich … hab’s schon wieder getan.“
Sie blinzelt mich an. Einmal. Zweimal. Ihr Mund klappt auf. „Du meinst – o Sam!“ Sie klingt vorwurfsvoll und in mir zieht sich alles zusammen.
„Wen haben wir denn da?“
Margo fährt blitzschnell herum. Hinter mir klimpert irgendwas über den Boden. Ich sehe irritiert nach rechts zu Sascha, der mich mit großen Augen anstarrt, und folge dann Margos Blick.
Phil stolziert mit breiten Schritten direkt auf mich zu. Mein Körper erstarrt, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Lehne mich auf meinem Platz zurück und stopfe die Hände samt Telefon in die Bauchtasche des Hoodies.
Meine beste Freundin steht auf und stellt sich zwischen Phil und mich. „Herrgott, Phil, geh einfach weiter, okay? Niemanden interessiert, was du zu sagen hast.“ Ihre Stimme ist lustlos, genervt.
Ich presse die Lippen zusammen, um ihr Zittern zu unterdrücken. Keine Schwäche zeigen, Sam. Bloß keine Schwäche zeigen.
„Noch genauso verklemmt wie letztes Schuljahr, Margareth. Du solltest dich echt mal locker machen.“ Ich höre, dass Phil grinst, und die Bewegung seines Arms sagt mir, dass er sich durch das blonde Haar fährt. „Ich kann dir dabei helfen.“
Sein Säuseln treibt mir eine Gänsehaut über den Rücken.
„Pah! Das bezweifle ich stark!“
Er schaut für den Bruchteil einer Sekunde an ihr vorbei zu mir. Der Ausdruck in seinen dunkelblauen Augen wird schlagartig kalt.
Mein Herz stolpert.
„Komm, Andrews, wir setzen uns nach hinten. Du willst doch nicht hier vorne beim Homo-Club sitzen.“
Seine Worte versetzen mir einen Stich. Ich warte verkrampft darauf, dass Sasha etwas Verletzendes hinzufügt – dass er dem Ganzen die Krone aufsetzt –, aber es passiert nichts. Es herrscht absolute Stille und ich fixiere einfach Margos geballte Fäuste.
„Sorry, muss dieses Jahr echt aufpassen“, antwortet Sasha.
Wie bitte, was?! Ich wage es nicht, ihn anzusehen.
„Na, wenn du meinst“, sagt Phil und er hört sich an, als würde er ausnahmsweise anstatt mich lieber Sasha kaltmachen. „Dass du das nicht früher oder später bereust, Supersportler.“ Er spuckt das letzte Wort wie eine Beleidigung aus und schlendert in die hinterste Reihe.
Margo setzt sich wieder. „Ignorier ihn, irgendwann vergeht ihm die Lust.“
Ich höre gar nicht richtig hin, denn mal abgesehen davon, dass Phil noch nie die Lust vergangen ist, frage ich mich, wieso Sasha nicht mitgezogen ist. Ohne nachzudenken, drehe ich mich zu ihm und glaube für einen Moment, dass er doch zu seinem Team gegangen ist, denn der er sitzt nicht auf seinem Platz. Mein Blick wandert nach unten und fällt auf eine große Hand, die sich um einen Bleistift schließt. Dann kriecht Sasha unter dem Tisch hervor zurück auf seinen Stuhl.
Er trägt die gelb-schwarze Murphy-Bulldog-Mannschaftsjacke, die sein Schwimmerkreuz vorteilhaft betont. Dunkelbraunes Haar steht wild in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Ich betrachte seine braune Haut und seinen kantigen Kiefer. Eine blasse Narbe verläuft dort zwischen Kinn und Wange und auf seiner knochigen Nase schimmern auch ein paar helle Stellen, ganz so, als hätte er sich als Kind mal so richtig langgelegt und sich dabei das Gesicht aufgeschrammt. Die vollen Lippen scheinen von diesem Unfall aber nichts abbekommen zu haben.
Irgendwo aus den Untiefen meines Bewusstseins meldet sich mein Verstand und sagt mir, dass ich ihn nicht so anglotzen soll. Ich sehe in seine dunkelbraunen Augen und er schaut erschrocken zurück.
In dem Moment ertönt ein Kreischen. „Sasha!“
Ich stöhne entnervt, widme mich meinem Telefon und konzentriere mich krampfhaft darauf, aber diesmal hilft es nicht. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Sashas Freundin, Audrey Hanson, wie sie auf ihren Angebeteten zustürmt und ihn überschwänglich begrüßt. Ihr langer, blonder Flechtzopf fliegt umher. Rapunzel und ihr Prinz. Wie passend.
Hinter ihr strömen weitere Schüler*innen herein, gehen alle zum Supersportler. Sie schütteln ihm die Hand, klopfen ihm auf die Schulter, klatschen ihn ab. Als wäre er ein Nationalheld oder so. Ich schnaube. Dieses Gehabe, weil Sasha letztes Jahr irgendeinen bescheuerten Schwimmrekord geknackt hat, ist einfach nur lächerlich.
„Wieso sitzt du hier vorne bei den Strebern?“, fragt Nicole, die beste Freundin von Rapunzel.
Ich schließe die Augen, frage mich, wieso dumme Menschen andere, die einfach klüger sind, runtermachen müssen. Jemand stößt mir mit dem Ellenbogen in die Rippen. Ich schlage die Lider auf.
Margo nickt in Richtung Tafel.
Endlich. Mr Weight lässt gerade seine Tasche und einen Stapel Plakate auf das Pult fallen, es klingelt und die Menge hinter mir zerstreut sich.
Ich atme auf und stecke das Smartphone weg.
Nachdem Mr Weight dem Kurs eine lange Einführung über das Abschlussjahr gegeben hat, möchte er eine für ihn eher untypische Unterrichtsform ausprobieren.
„Also los, finden Sie sich in Dreiergruppen zusammen.“
Das darf doch echt nicht wahr sein.
Er lacht und die Brille auf seiner Nase wackelt. „Nun schauen Sie mich alle nicht so an. Sam, Margareth, drehen Sie sich doch einfach zu Sasha.“
Nein …
Er lacht noch einmal. „Audrey, Sie werden auch eine Stunde ohne ihn auskommen.“ Er teilt Rapunzel einer anderen Gruppe zu.
Lautes Stühlerücken und Geplapper bricht los.
Nein, nein, nein!
Margo schnappt sich ihre Sachen und dreht sich um.
Ich fixiere Mr Weight flehend. Wieso kann er nicht einfach tun, was er immer schon getan hat? Über merkwürdige Details der amerikanischen Geschichte faseln und ich schreibe mit. Ich spüre Margos abwartenden Blick auf mir und drehe meinen Stuhl halb herum. Sie legt ihren Stift und einen Block auf Sashas Platz ab, aber ich denke nicht einmal im Traum daran, irgendetwas Derartiges zu tun. Keine Chance. Nie im Leben. Mit verschränkten Armen fokussiere ich die Schulsachen auf meinem Schoß.
Mr Weight kommt bei uns vorbei und reicht uns ein Plakat plus Stift.
„He, Andrews, pass auf, dass du dich nicht ansteckst!“, ruft Phil von hinten.
Cooper und Evan lachen, klatschen und die ganze Klasse macht mit.
Schlagartig ist mir eiskalt. Meine Finger bohren sich in den Stoff meiner schwarzen Jeans.
„Ruhe!“, fordert Mr Weight. Das Lachen wird leiser. Das glaube ich jedenfalls, denn die Geräuschkulisse ist seltsam verzerrt.
Margo berührt mich mit den Fingerspitzen am Bein und ich schüttle kaum merklich den Kopf.
Wenn sie mich jetzt bemuttert, dann kann ich echt einpacken.
„Unsere Frage lässt sich mithilfe der Seiten sechsundzwanzig und folgende beantworten“, sagt sie und blättert geschäftig in ihrem Buch.
Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, wie dankbar ich ihr bin, dass sie sofort kapiert hat. Dass sie nicht nachbohrt. Dass sie mich nicht schwach aussehen lässt.
Der Supersportler mir gegenüber tut es ihr nach. Er schlägt eine Seite nach der anderen um, als wäre nichts.
Ich lege Stift, Notizblock und Organizer nun doch auf dem äußersten Rand des Tisches ab. Das Rascheln der Seiten nervt. Ein dumpfer Schmerz pulsiert in meinem Kopf. Ich höre immer noch Phils Lachen.
„Ruhe, Phil! Sie hatten Ihren Spaß. Arbeiten Sie jetzt!“, befiehlt Mr Weight.
Ich starre auf das Inhaltsverzeichnis der Lektüre in meinen Händen. Es war klar, dass es so läuft. Ich wusste es. Ich wusste es ganz genau. Aber wieso fühle ich mich dann trotzdem so beschissen? Vorsichtig linse ich hoch.
Sashas braune Augen wandern von links nach rechts, immer wieder. Seine Kiefer mahlen und die Narbe bildet dadurch eine tiefe Kerbe. Er ist angespannt, wünscht sich wohl, woanders zu sitzen. Dann müsste er nicht mit mir, der Schwuchtel, zusammenarbeiten. Eine Haarsträhne fällt ihm in die Stirn, aber es scheint ihn nicht zu stören.
Ich schaue ins Buch und knete meine eiskalten Hände, bis ich meine Finger wieder spüre. Der Supersportler hebt den Kopf und ich weiß, dass er mich ansieht. Scheiße. Ich verziehe den Mund, lehne mich zurück und schlage die entsprechende Seite auf.
„Okay … seid ihr … durch?“, fragt Margo. Ihre Stimme klingt, als wäre sie sich unsicher, ob sie Sasha und mich als ihr bezeichnen dürfe.
„Moment noch“, antwortet Sasha.
Ich stimme ihm mit einem Brummen zu und hasse es, ihm überhaupt in irgendwas zustimmen zu müssen, aber ich habe noch keine einzige Zeile gelesen. Läuft ja super mit dem grandiosen Abschluss.
Die anderen Gruppen kommen ins Gespräch und der Geräuschpegel steigt. Margo und Sasha bereden die Aufgabe zu zweit, während ich keine drei Sätze am Stück durchlesen kann. Verdammt, was ist los mit mir?
Ich kneife die Augen einen Moment lang zu und lasse den Blick dann schweifen.
Phil flirtet ganz ungeniert mit Nicole, das sieht man auf hundert Meilen Entfernung. Ständig fährt er sich durchs Haar und grinst sie an, während sie im Abstand von gerade einmal zwei Sekunden immer wieder seinen Arm oder seine Hand berührt. Ich beiße mir auf die Zunge und sehe weg.
Mir fällt auf, dass nicht nur ich meine Mitschüler*innen beobachte.
Rapunzel stiert mit zusammengezogenen Augenbrauen zu uns herüber. Ich folge ihrem Blick und schaue zwischen Sasha und Margo hin und her. Sie unterhalten sich eifrig darüber, wie wir das Plakat gliedern sollen. Hoffentlich ist Audrey eifersüchtig und hoffentlich kriegt er Stress mit ihr. Das würde ich ihm so richtig gönnen.
Ich halte inne.
Rapunzel arbeitet mit Margo und mir für die Schulzeitung und ich glaube, die beiden verstehen sich ganz gut. Verdammt, ich bin ein Arschloch. Selbst wenn Audrey nicht gut mit Margo befreundet wäre. Wieso sollte ich jemandem wünschen, was ich tagtäglich fühle? Ich checke ja selbst nicht, wie ich wegen Phil nach so vielen Jahren immer noch eifersüchtig sein kann.
„Soll ich die Stichpunkte diktieren und einer von euch schreibt?“, fragt Margo. Ein dezentes Lächeln ruht auf ihren Lippen. Sie sieht zwischen Sasha und mir hin und her.
Ich schiele zu dem Stift, der verflucht nah beim Schwimmchamp liegt. Mein Körper wird steif und ich kann nicht danach greifen. Ich kann einfach nicht.
Sasha zuckt kaum merklich mit den Schultern. „Meinetwegen.“
Meinetwegen? Kann der keine ganzen Sätze bilden? Ein missmutiges Brummen dringt aus meiner Kehle, bevor ich es verhindern kann.
„Willst du lieber?“ Margos Stimme klingt nun nicht mehr so geduldig.
Ich starre den Stift an und möchte ihn an mich nehmen. Es ist doch so einfach. Ich müsste mich nur ein wenig vorlehnen und die Hand ausstrecken.
„Jungs, einer von euch muss schreiben. Jetzt habt euch nicht so!“
Manchmal frage ich mich, ob Margos empathische Momente nur Glückstreffer sind. Egal. Bevor er mit seinem Erbsenhirn die ganze Arbeit versaut … Ich überwinde mich und greife nach dem Stift.
Zu spät registriere ich, dass auch Sasha sich bewegt. Unerwartet streift seine Hand meine und ich weiche zurück. Mir wird heiß und kalt zugleich. Mein Kopf muss auflodern wie bei Hades im Kinderfilm ‚Hercules‘. In mir explodieren Erinnerungen.
„Sprich mich nie wieder an!“
„Schwuchtel!“
„Alles ist deine Schuld!“
Ein eisiger Schauer treibt mir den Schweiß auf die Stirn.
Sasha schlingt die Finger um den Stift und meidet meinen Blick. Als wäre nichts gewesen, entfernt er den Deckel und beugt sich zum Plakat. Zahlt er mir das später heim?
Hinter ihm bricht tosendes Gelächter aus. Erst jetzt kapiere ich, wie still es war.
„Sasha, ich würde mir schnell die Hände waschen!“
Margo springt auf. „Halt’s Maul, Cooper!“
Ich höre, wie jemand ‚Schwulette‘ zischt, und sehe auf meine zitternden Finger.
„Cooper, wollen Sie direkt am ersten Tag beim Direktor landen?“, unterbricht Mr Weights schneidende Stimme das Schauspiel. „Margareth, setzen Sie sich und zügeln Sie ihre Zunge. Ich will nach dem Unterricht mit Ihnen beiden über soziale Umgangsformen sprechen!“
„Und was ist mit Phil? Was ist mit seinen sozialen Umgangsformen?“, fragt Margo.
„Fordern Sie mich nicht heraus. Ich spreche Sie und Cooper.“
Das Lachen wird leiser, ebbt aber nicht vollständig ab. Meine Augen brennen. Am liebsten würde ich sie mir ausreißen, damit ich nicht flennen kann.
Mit einem dumpfen Geräusch plumpst Margo zurück auf ihren Stuhl und nimmt meine Hand. Ihre zittert genauso sehr wie meine. Ich klammere mich an ihr fest, auch wenn es mich schwach aussehen lässt. Auch wenn ich nicht verstehe, wieso sie mich verteidigt.
Mich. Den niemand leiden kann. Den niemand haben will. Diese Gedanken erdrücken mich.
Das Klingeln der Schulglocke war mir noch nie so willkommen. Ich reiße mich von meiner besten Freundin los, stopfe meine Sachen wahllos in den Rucksack und fliehe aus dem Raum.
„Sam!“, ruft Mr Weight mir hinterher. „Sam!“
Es ist mir egal.
Ich renne, während wirre Bilder auf mich hereinbrechen.